So weitreichend und tiefgründig das Schaffen Johann Sebastian Bachs (1685-1750) das Musikleben Europas seit mindestens anderthalb Jahrhunderten beeinflußt, so übermächtig ist auch der Schatten, den es auf seinen direkten Amtsnachfolger im Thomaskantorat Gottlob Harrer (1703-1755) noch immer wirft. Dazu haben maßgeblich die Umstände von Harrers Wahl ins Amt beigetragen, die noch vor dem Ableben Bachs betrieben und durch den sächsischen Premierminister Brühl sowie den Rat der Stadt Leipzig begünstigt worden waren. Auf die "Proba zum künfftigen Cantorat zu St. Thom:, wenn der Capellmeister und Cantor Herr Sebast: Bach versterben sollte", einer Kantate mit dem Titel Der Reiche starb und ward begraben, hatte der Leipziger Rat in den "großen musikalischen Concert-Saale" zu den Drei Schwanen Am Brühl eingeladen, die "mit größtem applausu" aufgenommen wurde. Einzig dieses Ereignis und vereinzelt die fünfjährige Amtszeit (1750-1755) blieben im Gedächtnis der - überwiegend preußisch bestimmten - Musikgeschichtsschreibung.
Dabei nahmen die Leipziger Musikinteressierten den "italiänischen" Stil, den Harrer von seiner langjährigen Anstellung als Kapellmeister des Premierministers Heinrich Graf von Brühl (1700-1763) am sächsisch-polnischen Hof aus Dresden mitbrachte, anscheinend mit Wohlwollen auf. Sie entsprach durch das Primat der Melodie und eine auf ausgedünnte Proportion ausgerichteten Begleitung dem modernen Geschmack musikalischer Ästhetik.
Dabei konnte der in Görlitz geborene Sohn eines kurfürstlichen Steuereinnehmers auf einer umfangreichen Ausbildung aufbauen. Während seines Medizin-Studiums an der Leipziger Universität in den Jahren 1722-1725 widmete er sich der "artis musicae" , die neben dem Musizieren besonders das Komponieren umfaßte. Ob Harrer in einem der studentischen Collegii musici tätig war und dadurch in Kontakt mit Bach oder anderen Kirchenmusikern Leipzigs trat, läßt sich nicht belegen. Da ihn jedoch die Musik "durch ihren Reiz in ganz besonderer Weise fesselte," erreichte er in Leipzig "so große Fortschritte" , daß er seit etwa 1732 als supernumerarius von Friedrich August I. (August der Starke, 1673-1733) in die königlich-kurfürstliche Hofkapelle zu Dresden aufgenommen wurde. Die renommierte Kapelle unter ihrem Hofkapellmeister Johann David Heinichen (1683-1729) war europaweit bekannt und verpflichtete die angesehensten Musiker, mit denen Harrer ebenso in Dresden als auch in Warschau musizierte.
Nach dem Tod des Kurfürsten wurde Harrer als Musiker in die Kapelle des "Cabinets-Ministre" Heinrich Graf von Brühl verpflichtet, der für die weitere Ausbildung seines späteren Kapellmeisters sorgte. Zunächst erhielt Harrer kompositorischen Unterricht bei dem "Kirchen-Compositeur" Jan Dismas Zelenka (1679-1745), was sich in den frühen Sinfonien und Messen niederschlägt. Durch Harrers Virtuosität auf dem Cembalo sowie als Komponist schien er über Sachsens Grenzen hinaus Bekanntheit erworben zu haben, da im Jahr 1737 Johann Gottfried Walther eine kurze Biographie Harrers in seinem Musicalischen Lexicon zu veröffentlichen beabsichtigte. Den Ritterschlag jedoch erhielt Harrer, als er in den Jahren 1738-1741 in Begleitung des Königs und Kurfürsten Friedrich August II. (1696-1763) und seines berühmten Hofkapellmeisters Johann Adolf Hasse (1699-1783) nach Italien reiste und dort in "Venedig, Rom und Neapel die hervorragendsten Meister der Tonkunst" hörte und kennenlernte. Nach Rückkehr aus Italien erwarb er sich mit der Ernennung zum Kapellmeister der reichsgräflichen Kapelle die Anerkennung seiner musikalischen Verdienste und gründete eine Familie. Sein Aufgabenbereich änderte sich aber nicht grundlegend; während dem Kurfürst für die musikalische Ausgestaltung der Gottesdienste, Opernabende und Staatsmusiken unterstand, sorgte Brühls Kapelle für Musik bei diplomatischen Empfängen und Assembléen in Dresden und Warschau. Zudem oblag Harrer wohl die musikalische Ausbildung der Kinder Brühls. Während der preußischen Besatzung Sachsens im Jahr 1745 "fand Harrer vorzüglichen Beyfall bey ihm [Friedrich II.] und genoß den täglichen Zutritt als Akkompagnist auf dem Flügel in seinem Cammerconzerte." Unbelegt bleiben die Gründe für die Bestrebungen Brühls, seinen Kapellmeister in das Amt des Leipziger Thomaskantors zu entlassen.
Zu den Bewerbern der engeren Wahl gehörten neben Harrer der Cammer-Cembalist Friedrichs II. und zweite Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel Bach, aus Leipzig der Leiter des Bachischen Collegium musicum Johann Trier sowie der Thomasorganist und Universitätmusikdirektor Johann Gottlieb Görner, der Merseburger Kantor August Friedrich Graun sowie der Zeitzer Schloßorganist Johann Ludwig Krebs. Der Leipziger Rat entschied sich für Harrer aufgrund der abgehaltenen Probemusik, der "von hochgedachten Ministre Recommendation [, daß er] geraume Zeit in Italien gewesen und darinnen die Composition erlernet, [sowie schließlich] auch die Information, so eines Cantori zu käme, verrichten wolte." Der Vorzug Harrers lag demnach in seiner Zusage, einem Kantorenamt gemäß "Information", d. h. wissenschaftlichen Unterricht zu erteilen, was der Amtsvorgänger Bach "durch ein ander tüchtiges Subjectum" verrichten ließ. Ein Ratsvotum lautete: "Die Schule brauche einen Cantorem u. keinen CapellMeister" , ein anderes: "die übrigen [Kandidaten] wären zwar alle auch geschickte Musici, ob sie aber zur Information tüchtig, wäre zu bezweifeln."
Harrer als "ein sehr stiller und comportabler Mann" war nicht nur im "Kirchen-Stylo, als in denen anderen Arten von Music" befähigt, er brachte auch "den heutigen brillanten Gusto der Music" in die Messestadt mit, womit Leipzig erstmals einen Vertreter des modernen italienischen Stils vorweisen konnte. Wie stark das emanzipierte Leipziger Bürgertum Interesse hegte an "neuer" italienischer Musik, die in den außerkirchlichen Gattungen zu besonderer Blüte gelangte, zeigt der stete Ausbau des ersten bürgerlichen Konzertunternehmens. Das "Große Concert" im Gasthaus Drey Schwanen bestand seit 1743. Da von Harrer bis 1750 größtenteils nur Instrumentalmusik nachweisbar ist, liegt es nahe, daß diese ebenda zu Gehör gebracht wurde. Im Jahr 1749 ist zudem in der Konzertreihe des "Concert spirituel" die Aufführung eines Passionsoratoriums nachweisbar, dem ein Jahr später mit dem Oratorium "I pellegrini al Sepolcro di Nostro Signore" von Hasse als dem angesehensten Vertreter der italienischen Schule ein Musterwerk dieser renommierten Gattung folgte. Der Außergewöhnlichkeit, daß ein ausgesprochen kirchlich-religiöses Werk in einem weltlichen Konzertsaal erklang, konnte mit dem Gattungswandel der Passion entgegnet werden - weg von der am Bibeltext orientierten oratorischen Passion in vollendeter Gestalt der Bachschen Passionen hin zu den gänzlich freien Dichtungen in reflektierender Sicht unter Auslassung der Rolle Christi. So konnte das Leipziger Publikum im Jahr 1753 der Aufführung des italienischen Oratoriums "Gioas Rè di Giuda" (Metastasio) in der Vertonung des Thomaskantors beiwohnen. Für die Aufführungen in den Karfreitagsgottesdiensten der Leipziger Hauptkirchen dagegen hatte Harrer deutschsprachige Oratorien komponiert, von denen vier bekannt wurden. Im Falle des ebenfalls 1753 in der Nikolaikirche aufgeführten Oratoriums "La Morte d'Abel" (nach Metastasio) wird er selbst als Übersetzer vermerkt. Für die übrigen vier Passionszeiten in Harrers Amtszeit sind zwei Oratorien bekannt: "Oratorium nach dem Evangelio S. Johannis. Ich will zum Myrrhen-Berge gehn" und "Isaac, figura del Redemptore, dell Abb. Metastasio [...] Genug mein Sohn, genug, der größte Theil der Nacht".
Schließlich ist "La Passione del Nostro Signore" (nach Metastasio) als einfacher Originalstimmensatz überliefert. Über dessen Aufführungsdatum und -ort in Leipzig ist nichts belegt. Möglich ist - und das hält sich als unbewiesene Besonderheit, daß "La Passione" als erste Passionsvertonung nach Bach in einer der Leipziger Kirchen erklang. Daß dabei Musiker des "Großen Concerts" mitgewirkt haben, macht der Namensvermerk eines "Konzertisten" wahrscheinlich. Das Werk steht in der Tradition des katholischen Karwochenoratoriums. Das Libretto mit dem Beginn "Ich weiß nicht, wo ich bin" ist vermutlich von Harrer ins Deutsche übersetzt worden. Nach einer instrumentalen - dem stile antico sehr nahen - "Introduzzione" in Gestalt eine ausgedehnten Fuge wird dem metastasianischen Libretto folgend in abwechselnden Rezitativen und Arien das Leidensgeschehen Christi nach dessen Tod in zurückblickender Weise von den vier biblischen Figuren Maria Magdalena, Petrus, Johannes und Joseph von Arimathia erzählt. Der Jünger Petrus eröffnet dabei als orientierungslos Suchender die Szene, die übrigen Figuren treten später auf und berichten - unter Auslassung marienverehrender Verse - von Jesu Passion in teilweise erschreckender und grausamer Weise. Im zweiten Teil wird die Handlung auf das vorösterliche Geschehen gelenkt und an die alttestamentarischen Prophezeiungen erinnert. Der Text bietet eine Fülle verschiedener Charaktere und Ausdrücke, wodurch dem Komponisten ermöglicht wird, alle Facetten affektierten Ausdrucks darzustellen. Die Rezitative werden vorzugsweise akkompagniert, die Gesangspartien der Soliloquenten sind anspruchsvoll und von Empfindsamkeit sowie starker Opernhaftigkeit geprägt. Auffallend sind eine fein abgestufte Dynamik und die angestrebte Dünnstimmigkeit. Der stets homophon deklamierende Chor als "Chor der Jünger" hat demgegenüber sehr wenig Anteil; er tritt in Nummer 4 mit der Ankunft der übrigen Figuren in Erscheinung und beschließt beide Teile. Zudem tritt er im letzten Rezitativ auf, das durch Interpolation protestantischer Choralverse bezug nimmt auf die bis dahin in Leipzig übliche, protestantische Passionstradition. Von Bach wird angenommen, daß er mit der Aufführung von Passionsoratorien zeitgenössischer Komponisten in den Jahren 1747 und 1748 von der Vertonung der Bibelworte Abstand nahm. Harrer indes führte mit seinen Passionsoratorien nach Metastasio das katholische Karwochenoratorium in die protestantische Liturgie ein.
Über das weitere kompositorische Schaffen Harrers in Leipzig ist außer eines verschollenen Jahrgangs von 48 Kirchenkantaten nur eine Motette in der Sammlung Johann Adam Hillers (1728-1804), eine Chorfuge sowie katholische lateinische Kirchenmusik etwa von Palestrina, Ristori, Fux oder Zelenka bekannt, die häufig von ihm instrumentiert wurde. Unter ihnen deuten viele Mess-, Magnificat- und Psalmvertonungen auf eine Aufführung in Leipzig hin. Aber auch Werke von Telemann und Bach finden sich in seiner Notenbibliothek, wohl aus Mangel an protestantischer Kirchenmusik. Die Neuerung Harrers jedoch betrifft die lateinische Kirchenmusik, die er neben bzw. an die Stelle der angestammten deutschen Kirchenkantate stellte. Ergänzend ist aus Harrers Beschäftigung mit dem kontrapunktischen Stil das Schulwerk Specimen contrapuncti erhalten.
Eine Anerkennung erhielt Harrer kurz vor seinem Tod im Jahr 1755 mit der Verleihung des Titels " Königl. Cammer-Compositeur" . Daß Harrer keineswegs nur Schützling Brühls war und als unbedeutender Komponist - abseits von Bach und Hasse - zu gelten hat, ergibt sich aus dem sozial-ästhetischen Kontext und wird durch eine seinen Tod betreffende, zeitgenössische Wertschätzung verdeutlicht, der zur Folge er "in seiner Classe vielen Fleiß auf treuliche Unterrichtung der Jugend geleget, und von sämtlichen Alumnis sehr bedauert zu werden verdienet hat."
Christoph Koop